Liebe Leserinnen,
liebe Leser,

der Umgang mit Eltern von Kindern, die eine Beeinträchtigung oder eine Verdachtsdiagnose haben, ist in pädagogischen Einrichtungen oft eine komplexe und emotionale Herausforderung. Eltern befinden sich oft in einem Prozess der Trauer, in dem sie die Realität ihres Kindes verarbeiten müssen. Die Erwartungen und Hoffnungen der Eltern – sei es der Wunsch nach einer „normalen“ Entwicklung ihres Kindes oder die Hoffnung, dass Kindergarten oder Schule alle Probleme lösen – können zu Spannungen zwischen Eltern und Pädagogen führen, besonders wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden können.

Das Zitat von Tina Bruce „Es macht keinen Sinn, ein Kind zu erziehen, ohne dabei die für das Kind bedeutendsten Menschen zu berücksichtigen“ verdeutlicht, wie entscheidend die Zusammenarbeit zwischen Pädagog*innen und den Eltern für die Entwicklung eines Kindes ist. Eltern spielen eine zentrale Rolle im Leben eines Kindes, und ohne ihre aktive Einbindung in den Erziehungsprozess ist es schwierig, nachhaltige Fortschritte zu erzielen.

Dennoch gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Eltern nicht immer einfach. Viele Eltern verarbeiten noch den Schock oder die Trauer über die Beeinträchtigung ihres Kindes und befinden sich in einem emotionalen Prozess, den wir als Pädagog*innen nicht immer nachvollziehen oder steuern können. Manche Eltern erscheinen aus unserer Perspektive kontraproduktiv, etwa indem sie Diagnosen ignorieren oder unrealistische Erwartungen an das Kind oder die Einrichtung haben. Diese Wahrnehmung oder Wunschvorstellung kann sich über Jahre ziehen! Doch dieses Verhalten lässt sich oft als Teil ihrer Trauerverarbeitung verstehen.
Warum reagieren manche Eltern so?
Viele Eltern hatten möglicherweise noch gar nicht die Zeit oder den Raum, um die Diagnose oder den Verdacht auf eine Beeinträchtigung vollständig zu verarbeiten. Oft wird Kindergarten oder Schule als letzter Hoffnungsanker gesehen – der Moment, an dem sich die Dinge „wieder normalisieren“ könnten. Der Kontakt mit anderen Kindern macht die Realität jedoch deutlicher sichtbar. Hier wird der Vergleich mit neurotypischen Kindern oft schmerzhaft für die Eltern, weil die Unterschiede offensichtlicher werden.

Für die Eltern ist dies häufig der Moment, in dem ihnen bewusst wird, dass ihr Kind nicht den Erwartungen entspricht, die sie ursprünglich hatten. Diese Realität löst oft intensive Gefühle von Trauer, Wut, Verdrängung oder Verleugnung aus, und die Institution – sei es der Kindergarten oder die Schule – wird dabei zum Schauplatz dieser emotionalen Auseinandersetzung. Für viele ist es schwer, zu akzeptieren, dass die Institution nicht alle Probleme lösen kann.

Der Trauerprozess und seine Auswirkungen:
Eltern, die sich noch mitten im Trauerprozess befinden, reagieren oft mit Unverständnis oder sogar Aggression, wenn ihre Hoffnungen enttäuscht werden. Dies kann zu Spannungen im Gespräch mit den Pädagog*innen führen, da sie vielleicht noch nicht bereit sind, die Beeinträchtigung ihres Kindes anzuerkennen und zu akzeptieren. Die Trauer ist oft ein komplexer Prozess mit Phasen der Leugnung, Wut, Verhandlung, Depression und schließlich Akzeptanz, wie es in den Modellen von Verena Kast oder Erika Suchart beschrieben wird.

Unsere Rolle als Pädagog*innen:
Als Pädagog*innen ist es unsere Aufgabe, diesen Prozess der Eltern mit Geduld und Verständnis zu begleiten, auch wenn ihre Reaktionen manchmal schwer zu ertragen sind. Wenn wir verstehen, dass viele Eltern durch diesen Trauerprozess gehen, können wir ihre Gefühle besser nachvollziehen und angemessener darauf reagieren.

Durch empathische Begleitung und das Bewusstsein, dass Kindergarten oder Schule für viele Eltern der Ort ist, an dem die Realität ihrer Situation sichtbarer wird, können wir helfen, Brücken zu bauen und die Eltern auf dem Weg der Akzeptanz unterstützen. Es ist wichtig, den Eltern das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine sind und dass wir gemeinsam an der Entwicklung ihres Kindes arbeiten, auch wenn dies Zeit und Geduld erfordert.

Die Trauer, die viele Eltern durchleben, kann in verschiedenen Phasen ablaufen. In der Trauerspirale nach Erika Suchart gibt es acht Schritte, die von der Ungewissheit über die Diagnose bis hin zur Annahme und aktiven Integration in die Gesellschaft reichen. Ähnlich beschreibt Verena Kast vier Phasen der Trauer, die von der Leugnung der Diagnose bis zur Akzeptanz und dem Bezug zur Realität reichen. Diese Trauerphasen erklären, warum Eltern manchmal mit Wut, Verleugnung oder Überforderung auf uns als Pädagog*innen reagieren.

Erläuterung der Trauerverarbeitung nach Erika Suchart (Trauerspirale)

1. Ungewissheit– Eltern warten oft jahrelang auf eine Diagnose / hören, dass ihr Kind ist anders, seltsam ist
2. Gewissheit– jetzt ist die Diagnose da, aber was bedeutet das eigentlich für die Familie, das Kind…
3. Aggression/ Verdrängung– die Diagnose wird in Frage gestellt, man findet Besonderheiten am Kind,  die jedes andere neurotypische Kind auch hat, also muss auch mein Kind ja auch normal sein/ die Eltern werden wütend oder ärgerlich
4. Verhandlung- es wird versucht passende Therapieformen zu finden/ alles wird ausprobiert/ man versucht das Beste aus der Situation zu machen und sucht nach Erfolg
5. Depression– hier fühlen sich die Eltern oft als hilflos und sind niedergeschlagen. Nur weil der Name der Phase so klingt, heißt das nicht, dass die Eltern depressiv werden
6. Annahme– das Kind mit seiner Diagnose annehmen
7. Aktivität– die Eltern gewinnen meist an Energie und können die Realität annehmen und versuchen das Beste aus ihrer Situation zu machen.
8. Solidarität– hier integrieren sich die Betroffen in die Gesellschaft, gehen zu Selbsthilfegruppen und können mit anderen Betroffenen darüber sprechen

Vier Phasen der Trauer nach Verena Kast 

1. Nicht- Wahrhaben- Wollen – Eltern leugnen die Beeinträchtigung ihres Kindes und hoffen auf eine Fehldiagnose
2. Aufbrechende Emotionen– Hier setzt die Realität ein und die Eltern erleben eine Achterbahnfahrt der Gefühle wie Wut, Trauer, Angst und Schuld
3. Suchen und Sich- Trennen – Die Eltern beginnen sich mit der Situation auseinanderzusetzen und lösen sich von ihren ursprünglichen Erwartungen zu lösen
4. Weltbezug– Die Eltern akzeptieren ihr Kind und beschäftigen sich mit dem Hier und Jetzt.

Wie können wir als Pädagog*innen Eltern gut begleiten und uns selbst schützen?

1. Offene Kommunikation:
   Es ist wichtig, Eltern zuzuhören, ohne ihre Worte zu bewerten. Nur wenn Eltern das Gefühl haben, dass sie gehört werden, bauen sie Vertrauen auf, was die Zusammenarbeit erleichtert.
2. Einblick in die Arbeit geben:
   Zeigen Sie den Eltern, was in der Betreuung geschieht, besonders wenn die Kinder nonverbal sind. Bilder, Videos oder konkrete Beispiele helfen Eltern, die Fortschritte ihrer Kinder zu sehen.
3. Regelmäßiger Austausch:
   Suchen Sie bei der Bring- und Abholsituation das Gespräch. Fragen Sie die Eltern immer wieder, wie es ihnen und dem Kind geht. Oft brauchen Eltern Zeit, um offen zu sprechen.
4. Paraphrasieren:
   Wiederholen Sie, was die Eltern sagen, in eigenen Worten, um Missverständnisse zu vermeiden und sicherzustellen, dass beide Seiten sich richtig verstehen.
5. Klare und einfache Sprache:
   Sprechen Sie in kurzen und klaren Sätzen. Vermeiden Sie komplizierte Erklärungen, damit die Eltern den Inhalt leicht verstehen können.
6. Emotionale Abgrenzung:
   Es ist wichtig, sich emotional abzugrenzen. Wenn Eltern wütend oder frustriert sind und die Schuld an den Problemen ihrem Kind oder uns zuschreiben, sollten wir uns bewusst machen, dass diese Reaktionen Teil ihres Trauerprozesses sind.
7. Verständnis zeigen:
   Auch wenn wir persönlich anders handeln würden, sollten wir versuchen, die Perspektive der Eltern wertfrei zu verstehen.
8. Körpersprache beachten:
   Eine offene und einladende Körperhaltung kann helfen, eine positive und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen.
9. Fragen statt Anweisungen:
   Vermeiden Sie es, den Eltern zu sagen, was sie tun sollen. Stellen Sie lieber Fragen, die ihnen helfen, selbst eine Lösung zu finden.
10. Grenzen setzen:
    Manchmal ist es notwendig, klar zu kommunizieren, dass ein Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden muss, wenn der Moment nicht passend ist.
11. Dokumentation:
    Halten Sie wichtige Abmachungen schriftlich fest und lassen Sie sich diese von den Eltern unterschreiben. Dies kann Missverständnisse vermeiden und gibt beiden Seiten Sicherheit.

Durch diese Herangehensweisen können wir eine Balance zwischen der Unterstützung der Eltern und dem Schutz unserer eigenen emotionalen Gesundheit finden.

Abschließend möchten wir noch betonen, dass viele Gespräche, großer Einsatz und vielfältige Hilfestellungen, die wir in den Jahren, in denen wir die Kinder begleiten, anbieten, oft nicht sofort angenommen werden können. WICHTIG ist: Irgendwann setzt der Prozess bei den Eltern in Gang, und dann kann auf genau diese Hilfestellungen zurückgegriffen und darauf aufgebaut werden. Unser Einsatz ist NICHT umsonst! Es dauert oft Jahre, bis die Eltern bereit sind, das Angebotene anzunehmen, aber der erste Schritt ist bereits getan. Jedes Gespräch, jede Unterstützung, die wir heute leisten, wird langfristig Früchte tragen – auch wenn wir es nicht sofort sehen.

Mit herzlichen Grüßen

Petra & Sarah

Quellen:

https://www.ppm-online.org/krankheitsbilder-senioren/die-8-spiralstufen-der-krisenbewaeltigung/

https://november.de/ratgeber/trauerhilfe/trauerphasen/

Zeitschrift Autismus verstehen, Ausgabe 01,2024 „Blick nach vorne“ von Petra Lachinger