Versteckte Konflikte

12 Minutes13. Jänner 2025
Konflikte und Overloads/ Meltdowns bei Kindern mit Autismus – Die sichtbare Ebene und die wahren Hintergründe

 

Liebe Leserinnen und Leser,

 

In dieser Ausgabe möchten wir uns einem Thema widmen, das viele Eltern, Betreuer und Lehrkräfte von Kindern mit Autismus beschäftigt: die Entstehung und die Ursachen von Konflikten und Overloads/ Meltdowns. Besonders spannend und wichtig ist dabei die Frage, warum diese Konflikte manchmal so plötzlich und heftig auftreten und wie wir die wahren Ursachen dahinter besser verstehen können.

1. Der sichtbare Konflikt: Was wir von außen wahrnehmen

Für Außenstehende ist ein Konflikt oder ein Overload/ Meltdown oft die einzige sichtbare Reaktion des Kindes. Häufig zeigt sich diese in Form von Wutanfällen, Schreien, Rückzug oder in körperlichen Reaktionen wie Zappeln, sich abwenden oder sogar aggressiven/ autoaggressiven Verhaltensweisen. Diese Situationen können auch für die Umgebung intensiv sein und ein Gefühl der Hilflosigkeit auslösen.

Doch was wir sehen, ist meist nur die „Spitze des Eisbergs“ – eine sichtbare Reaktion auf tieferliegende Ursachen, die nicht immer direkt ersichtlich sind. Ein Beispiel dafür ist das folgende Diagramm:

 

Im oberen Bereich des Dreiecks sehen wir einen sichtbaren Auslöser – „Gewand schmutzig“. Dies ist der „sichtbare Konflikt“, der für alle erkennbar ist und oft die unmittelbare Reaktion des Kindes hervorruft. Die unteren Bereiche zeigen hingegen die tieferliegenden Ursachen, wie „Missverständnis“, „Unsicherheit“ oder „Müdigkeit“. Diese unsichtbaren Faktoren beeinflussen das Verhalten maßgeblich und führen in ihrer Gesamtheit zur Eskalation.

2. Die wahre Ursache: Auslöser und innere Bedürfnisse erkennen

Konflikte oder Overloads/ Meltdowns bei Kindern mit Autismus haben oft tieferliegende Auslöser, die sich auf der Sachebene schwer erfassen lassen. Ein häufiger Irrtum ist, dass nur laute Geräusche oder intensive Reize als Auslöser wirken. In Wahrheit können auch ganz einfache, alltägliche Reize – wie ein kleiner Fleck auf der Kleidung, eine Veränderung im Raum oder ein neues, vielleicht leicht kratzendes Kleidungsstück – eine starke Reaktion hervorrufen. Solche „banalen“ Reize wirken deshalb so intensiv, weil das Kind möglicherweise schon durch andere unsichtbare Faktoren belastet ist.

Hier sind einige häufige versteckte Ursachen:

  • Überforderung durch sensorische Reize: Autistische Kinder sind oft besonders sensibel für Umgebungsreize wie Lärm, Licht oder Gerüche. Ein zu lauter Raum oder ein ungewohnter Geruch können eine Stressreaktion auslösen, die dann als Overload/ Meltdown sichtbar wird.
  • Überforderung durch leichte Reize: Auch leise oder unscheinbare Reize, wie ein störendes Kleidungsstück, ein leicht verändertes Umfeld oder sogar ein unangenehmes Gefühl auf der Haut, können als Auslöser wirken. Die Schwelle zur Überforderung ist oft viel niedriger als man denkt, weil andere unsichtbare Stressfaktoren bereits wirken.
  • Kommunikationsbarrieren: Kinder mit Autismus haben oft Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse klar auszudrücken. Wenn sie sich missverstanden oder ignoriert fühlen, kann das zu Frust führen, der sich in Konflikten entlädt.
  • Mangelnde Flexibilität: Viele autistische Kinder haben eine starke Präferenz für Routine und klare Strukturen. Unerwartete Veränderungen oder unvorhergesehene Ereignisse – sei es ein Planwechsel oder eine neue Person im Raum – können starken inneren Stress verursachen.
  • Verarbeitungsprobleme bei sozialen Signalen: Soziale Interaktionen sind oft sehr komplex und nicht immer eindeutig. Kinder mit Autismus können Schwierigkeiten haben, subtile soziale Hinweise richtig zu interpretieren. Dies führt nicht selten zu Missverständnissen, die Konflikte auslösen können.
  • Langeweile und festgefahrene Verhaltensweisen: Viele Kinder mit Autismus neigen zu wiederholten Verhaltensmustern oder „Stereotypien“, die ihnen Sicherheit bieten. Zu langes Verweilen in solchen Routinen kann jedoch ebenfalls zu Unzufriedenheit und Unruhe führen, wenn das Bedürfnis nach Abwechslung oder Anregung ignoriert wird. Menschen mit Autismus profitieren von extern gesteuertem Input.

Beispiele für hilfreiche Aktivitäten im Alltag für Menschen mit Autismus

Hier sind weitere Beispiele für konstruktive und strukturierte Aufgaben im Alltag, die für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) hilfreich sein können. Diese Aufgaben bieten eine Kombination aus Routine, Sinnhaftigkeit und gezielter Förderung von motorischen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten:

Hier sind einige praktische Beispiele:

  1. Hauswirtschaftliche Tätigkeiten
    • Kochen: Einfache Rezepte gemeinsam vorbereiten und kochen. Dabei lernen sie, Anweisungen zu befolgen, Abläufe zu strukturieren und Aufgaben zu planen.
    • Geschirr ein- und ausräumen: Das Ein- und Ausräumen der Spülmaschine oder das Sortieren von Besteck ist eine sich wiederholende, strukturierte Tätigkeit, die den Kindern eine klare Aufgabe gibt.
    • Tisch wischen: Diese Tätigkeit erfordert Konzentration und eine gezielte Bewegung, die für viele Menschen mit Autismus beruhigend wirken kann.
  2. Bauen und Konstruieren
    • Bauklötze und Lego: Diese Aktivitäten fördern motorische Fähigkeiten und die Kreativität und bieten gleichzeitig eine Möglichkeit, Erfolgserlebnisse zu erleben. Sie geben eine klare Struktur, da die Teile zusammengesetzt werden müssen.
    • Puzzle: Puzzles fördern die Problemlösungsfähigkeiten und das Erkennen von Mustern und Formen. Sie bieten klare visuelle Hinweise, die bei der Orientierung helfen.
    • Einwurfdosen: Diese einfachen, strukturierten Aufgaben bieten eine Möglichkeit, Feinmotorik zu üben und Konzentration aufzubauen.
    • à Diese drei Aktivitäten sind einfach und können, sobald sie erlernt wurden, zu routinierten und beruhigenden Aufgaben werden. Regelmäßig ausgeführte Tätigkeiten geben Struktur, Sicherheit und ein Gefühl der Kontrolle, was für Menschen mit Autismus besonders wichtig und unterstützend sein kann.
       
  3. Sensorische Angebote
    • Sensorische Aufgaben: Kneten, Sortieren, Fühlen und andere sensorische Aktivitäten können helfen, sensorische Bedürfnisse auszugleichen und das Körperbewusstsein zu stärken.
  4. Organisation und Ordnung
    • Wäsche sortieren und zusammenlegen: Das Sortieren nach Farben oder Arten und das anschließende Falten bieten klare, strukturelle Abläufe und fördern die visuelle und motorische Wahrnehmung.
    • Kleiderschrank ordnen: Kleidungsstücke können nach Kategorien, Farben oder Jahreszeiten geordnet werden. Dies fördert das Verständnis für Struktur und bietet eine sinnvolle Aufgabe im Alltag.
    • Regale und Schränke ordnen: Einfache Aufgaben wie das Sortieren von Dosen im Vorratsschrank oder das Einräumen von Regalen geben eine klare Aufgabe und eine sichtbare Erfolgskontrolle.
  5. Gartenarbeit
  • Pflanzen gießen: Regelmäßige Pflegeaufgaben wie das Gießen von Pflanzen geben Struktur und Verantwortung. Das unmittelbare Feedback, wenn eine Pflanze wächst oder blüht, kann ein Erfolgserlebnis bieten.
  • Unkraut jäten oder Laub harken: Diese Tätigkeiten sind repetitive und beruhigende Aufgaben, die Konzentration und Geduld fördern.
  1. Einfache handwerkliche Tätigkeiten 
  • Möbel zusammenbauen (z.B. einfache Regale): Einfache Möbelaufbauten mit klaren Anleitungen geben die Möglichkeit, strukturierte Abläufe zu üben und Erfolgserlebnisse zu erfahren.
  • Werkbank für Kinder: Arbeiten mit kindgerechten Werkzeugen wie Schraubenziehern oder Hammern an einer Werkbank (z.B. das Schrauben von Holzstücken) fördert die Feinmotorik und die Koordination.
  • Bastelarbeiten: Aktivitäten wie Perlen auffädeln, Schmuck basteln oder Modellieren mit Knete unterstützen Kreativität und Feinmotorik.
  1. Küchenaufgaben und Lebensmittelzubereitung
  • Obst und Gemüse schneiden: Unter Anleitung können einfache Schneidearbeiten ausgeführt werden, um die Hand-Augen-Koordination zu fördern.
  • Einfache Rezepte zubereiten: Diese Aufgaben ermöglichen es, kreative Entscheidungen zu treffen, während eine klare Struktur vorgegeben bleibt.
  1. Pflege des Wohnbereichs
  • Staubwischen: Diese Tätigkeit hat klare Anfangs- und Endpunkte und kann beruhigend wirken.
  • Mülleimer leeren: Eine einfache, regelmäßige Aufgabe, die Verantwortung und Struktur im Alltag vermittelt.

Diese Beispiele helfen, Menschen mit Autismus eine sinnvolle und strukturierte Einbindung in den Alltag zu bieten. Solche Aufgaben fördern Unabhängigkeit, schaffen Orientierung und sind für viele eine beruhigende und wertvolle Ergänzung.

3. Strategien zur Unterstützung: Konflikte verstehen und deeskalieren

Konflikte und Overloads/ Meltdowns können vermieden oder zumindest abgeschwächt werden, wenn wir die wahren Ursachen hinter den Verhaltensweisen verstehen. Hier sind einige Tipps zur Prävention und Deeskalation:

– Sensibilität für sensorische Bedürfnisse: Es ist hilfreich, die individuellen sensorischen Vorlieben oder mögliche sensorische Überreizungen des Kindes zu kennen. Ein ruhiger Rückzugsort, Kopfhörer oder gedimmtes Licht können in stressigen Situationen helfen, Überforderung zu vermeiden.

– Klarer und einfacher kommunizieren: Kinder mit Autismus profitieren von klaren, direkten Anweisungen. Eine einfache, klare Sprache oder visuelle Hilfsmittel (Fotos, Bilder usw) können die Kommunikation erleichtern und Missverständnisse vermeiden.

– Routine und Struktur schaffen: Ein strukturierter Tagesablauf und visuelle Zeitpläne bieten Stabilität und helfen, die Wahrscheinlichkeit von Konflikten bei Menschen mit Autismus zu verringern. Diese Struktur gibt Orientierung und Sicherheit und unterstützt dabei, den Tag vorhersehbar zu gestalten. Allerdings ist es wichtig, darauf zu achten, dass der Tagesablauf nicht zu starr und immer gleich abläuft. Zu feste Routinen können dazu führen, dass sie zunehmend eingefordert werden und spontane Veränderungen schwieriger werden.

Wenn der Alltag zu starr gestaltet ist, kann dies Unsicherheiten und Ängste bei unvorhergesehenen Änderungen auslösen. In solchen Fällen können spontane Veränderungen für das Kind oder die betroffene Person schnell überfordernd wirken und zu Overloads oder Meltdowns führen. Daher ist es ratsam, hin und wieder kleine Anpassungen oder Abwechslungen in den Ablauf einzubauen, um Flexibilität zu fördern und auf unerwartete Situationen besser vorbereitet zu sein.

– Gefühle und Emotionen benennen: Helfen Sie dem Kind, seine eigenen Gefühle zu erkennen und auszudrücken. Zum Beispiel durch die Verbalisierung: „Du bist gerade sehr wütend!“ oder „Du ärgerst dich über die Aufgabe!“ kann ein Kind lernen, dass die Emotion einen Namen haben und lernen diese zu benennen.

4. Fazit: Konflikte als Chance für Verständnis

Konflikte und Overloads/ Meltdowns sind nicht nur Herausforderungen, sondern auch Gelegenheiten, das Kind und seine Bedürfnisse besser zu verstehen. Je mehr wir die Ursachen hinter diesen Verhaltensweisen erkennen, desto besser können wir das Kind unterstützen und ihm helfen, mit stressigen Situationen umzugehen. Verständnis, Geduld und Empathie sind der Schlüssel, um Konflikte auf der Oberfläche als Signale für tiefere Bedürfnisse zu erkennen und darauf einzugehen.

Praktische Tipps für den Umgang mit Konflikten und Overloads/ Meltdowns bei Kindern mit Autismus folgen in unserem nächsten Newsletter im Februar.

Petra & Sarah